Eine Frau. Und trotzdem alles.
- Lukas Nimscheck
- 12. Juni
- 7 Min. Lesezeit
🇬🇧 English version below.

Was wir beim Schreiben von „DIE AMME“ über Soloabende fürs Theater gelernt haben
Wie schreibt man ein Theaterstück für nur eine Figur – das trotzdem fesselt, berührt und vielleicht sogar erfolgreich ist. Oder anders: Wie steht man ganz allein auf der Bühne und fesselt dennoch das gesamte Publikum?
Genau das haben wir uns gefragt, als wir DIE AMME entwickelt haben: ein Soloabend für die herausragende Steffi Irmen, mit den größten Hits von Peter Plate, Ulf Leo Sommer und Joshua Lange - die uns auch diesen wunderbaren Auftrag gegeben haben.
Im Zentrum: "Die Amme" - aus Romeo und Julia, die ihre eigene Version der berühmtesten Liebesgeschichte aller Zeiten erzählt. Unsere erste Frage war also: Was hat sie noch zu erzählen, was wir NICHT über Romeo und Julia wissen. Welche großen Fragen bleiben bei Shakespeare offen? Sie spricht also über das, was war – oder gewesen sein könnte. Kein Dialog, keine Gegenspieler:innen. Und trotzdem: Am Ende des Abends sollte man sich fühlen, als hätte man ein ganzes Ensemble erlebt. Was braucht es also, um einen solchen Monolog für die Bühne zu schreiben? Hier sind unsere wichtigsten Erkenntnisse, direkt aus der Arbeit an "Die Amme".
Ein neuer Aufhänger muss sein...
In unserem Fall ist es die einfache Frage: Warum sind die Familien von Romeo und Julia so verfeindet. Was ist da vorgefallen? Das Schöne: Shakespeare verliert hierzu kein einziges Wort. Wir konnten uns also komplett austoben, ohne das "Hauptwerk" kaputt zu machen.
Für andere Soloabende könnte das z.B. ein einfaches Thema sein - in "Caveman" etwa geht es um Geschlechterverhältnisse von Männern und Frauen seit der Steinzeit, in "Fleabag" um das Datingleben einer Großstadtneurotikerin, in "Vanya" übernimt Andrew Scott mehrere Rollen aus Tschechows "Onkel Wanja".
Manchmal reicht eine einfache These also aus: "Mein Soloabend über starke Frauenfiguren der 20er-Jahre" - oder eben "Songs & Monologe, die sich mit Freundschaft beschäftigen.
Eine spannende Hauptfigur (Ach, was!?)
Wenn man ein Theaterstück mit nur einer Figur schreiben will, braucht diese Figur Brüche, Humor und Geheimnisse. Sie muss keine Heldin sein – aber etwas mit sich herumtragen, das größer ist als sie selbst. DIE AMME ist zwar eine Sympathieträgerin, aber eine, die schwere Schuld mit sich rumgeschleppt. Sie fragt sich, ob sie ihren eigenen Schützling, Julia, vernachlässigt und damit letztendlich umgebracht hat. Genau das braucht ein guter Monolog: Eine Figur, die versucht, über etwas hinwegzukommen.
Kill. Kill. Kill. Your. Darlings.
Oft gesagt, viel zu selten umgesetzt. Der größte Fehler beim Bauen eines Soloabends ist es, Songs zu singen, weil man sie "schon immer mal" singen wollte. Es geht darum, eine Auswahl an Musik zu treffen, die der Geschichte dient und echt für die jeweilige Situation ist. Nicht jeder Soloabend kann den Titelsong aus "Waitress" oder "Waving through a window" enthalten.
Wir hatten das große Glück mit den bekanntesten Songs aus der Plate/Sommer-Hitschmiede arbeiten zu dürfen - sodass wir die Story wirklich sehr frei um die bestehenden Lieder herumbauen konnten. So ist z.B. aus Vincent von Sarah Connor eine Empowerment-Hymne für den (schwulen) Vater Capluet geworden, den wir kurzerhand "Vincente" (Italien, you know) genannt haben. Oder aus "Ich bin ich" von Rosenstolz haben wir im Opening eine Art Schuldeingeständnis machen können.
Genauso ist es mit Kostümen und anderen Charakteren, die der Darstellende selber spielt. Nicht jeder Soloabend lebt davon, dass ein Mensch auf der Bühne in 1000 Rollen schlüpft - manchmal kann das auch billig wirken. Wir haben bei der Amme ganz bewusst keine Costume-Changes für die jeweils anderen Figuren eingebaut, die Steffi spielt. Manchmal reicht schon eine andere Körperhaltung - oder einfach nur die Behauptung, das jetzt jemand anderes spricht. Am wichtigsten ist die Figur selbst.
Plotten pleibt (ok, der war schlecht)
Ein Soloabend braucht genauso eine klare Dramaturgie wie ein großes Musical oder ein Zweiakter. Bei DIE AMME haben wir mit einem 7-Punkte-Modell gearbeitet:
Die Ausgangswelt: Die Amme lebt zurückgezogen nach der Tragödie von Romeo und Julia und putzt Tische in einer Trattoria irgendwo in Verona
Das Problem: Sie ist überzeugt, Mitschuld am Tod von Julia zu haben und hat eigentlich mit dem Leben abgeschlossen
Der Auslöser: Der Engländer William Shakespeare - unsichtbar auf einem Stuhl - taucht auf und recherchiert für sein neues Buch. Er stellt ihr unangenehme Fragen.
Die Reise: Sie durchläuft ihre Erinnerungen, erzählt, zögert, beschönigt, gesteht.
Die Wendung: Sie erkennt: Es war nicht nur sie. Es war ein ganzes Familiensystem. Eine Gesellschaft.
Der Preis: Sie gibt ihr altes Selbstbild auf und ist bereit nach vorn zu schauen.
Die Erkenntnis: Ich bin noch da. Ich lebe. Und das Suhlen in Schuld bringt mich nicht weiter.
Der Raum ist wichtig
Wir haben mit Reduktion gearbeitet: 6 Stühle, 3 Tische – mehr nicht. Der Fokus liegt ganz klar auf der Darstellerin. Aber gerade das zwingt zur Präzision. Jede Szene muss aus diesen Objekten erzählt werden. Das ist kein Nachteil – das ist eine kreative Chance. Reduktion schafft Bildkraft. Und zwingt uns Autor:innen und Regisseur:innen in szenischen Situationen zu denken, nicht in schöner Sprache allein. Wir haben tatsächlich beim Leuchten im Theater des Westens zuerst den Fehler gemacht, viel zu viel Licht um Steffi herum zu bauen. Das wirkte schrecklich und überladen. Und ich - Lukas - dachte schon, das ganze Stück ist Müll (so ist das manchmal). Erst als wir auch hier klar reduziert hatten und uns, wie beim Bühnenbild, auf das aller-aller nötigste beschränkt hatten, wurde der Abend rund.
Mikrokosmos mit Message
DIE AMME erzählt von einer Frau und ihrer (scheinbar) kleinen Geschichte. Aber es geht um mehr: Familiäre Gewalt. Frauenbilder. Das kollektive Schweigen einer Gesellschaft. Ein guter Soloabend hat ein Thema, das größer ist als die Figur. Die Figur ist das Brennglas – durch sie hindurch sehen wir ein System. Wenn du ein Theaterstück schreiben willst, frag dich: Worum geht es eigentlich – und was sagt das über uns alle?
Fazit: Weniger ist oft mehr – wenn es sitzt
Ein Theaterstück mit nur einer Figur zu schreiben, ist keine Einschränkung. Es ist eine Wette. Die Wette, ob es reicht. DIE AMME hat uns gezeigt, dass ein Soloabend alles enthalten kann – Emotion, Tiefe, Spannung – wenn die Figur lebendig ist. Und natürlich hilft es, wenn man so geniale Musik und eine so unfassbare Darstellerin hat, wie wir.
Wenn du selbst ein Monologstück oder ein kleines Theaterformat schreibst: Denk nicht in Begrenzungen. Denk in Verdichtung.
Und falls du "Die Amme" anschauen möchtest - gibts die Tickets hier: https://www.stage-entertainment.de/musicals-shows/die-amme-berlin?gad_source=1&gad_campaignid=22268233676&gbraid=0AAAAADjZvpCBJikKC0BEh-hkHql-AWZ-v&gclid=Cj0KCQjwxo_CBhDbARIsADWpDH789wbz-kigqUATpMZftEOorIpaz3S0XJvSGwcKKjN_dLXzplieHckaAhxfEALw_wcB
🇬🇧 English version
One Woman. Still Everything
What we learned while writing "DIE AMME": Solo shows for the stage
How do you write a play for just one character that still captivates, moves, and maybe even becomes a hit? That was the question we asked ourselves when we started developing DIE AMME/The Nurse – a solo musical evening written for the phenomenal Steffi Irmen, featuring the biggest hits by Peter Plate, Ulf Leo Sommer, and Joshua Lange (who also gave us the idea and the commission).
The show is currently running at Theater des Westens in Berlin. Tickets can be found here: https://www.stage-entertainment.de/musicals-shows/die-amme-berlin?gad_source=1&gad_campaignid=22268233676&gbraid=0AAAAADjZvpCBJikKC0BEh-hkHql-AWZ-v&gclid=Cj0KCQjwxo_CBhDbARIsADWpDH789wbz-kigqUATpMZftEOorIpaz3S0XJvSGwcKKjN_dLXzplieHckaAhxfEALw_wcB
At the center: the Nurse from Romeo and Juliet – telling her version of the most famous love story of all time. Our first question: what does she have to say that we don't already know? What big questions did Shakespeare leave unanswered? She speaks about what happened – or might have happened. No dialogue. No counterparts. And yet: by the end of the evening, it should feel like you've experienced an entire ensemble. Here are the biggest lessons we learned while writing DIE AMME:
1. Start with a hook
In our case, it was simple: Why are the Montagues and Capulets actually feuding? Shakespeare never tells us. That gave us full creative freedom to invent a backstory – without destroying the original work.
2. Build a character that holds the stage
It may sound obvious, but for a solo piece to work, your character needs flaws, humor, and secrets. They don't have to be a hero, but they must carry something heavier than themselves. Our Nurse is loveable but also burdened by guilt: Did she neglect Juliet? Did that get her killed? That’s what a great monologue needs – a character trying to overcome something.
3. Kill. Your. Darlings.
The biggest mistake when building a solo evening? Singing songs just because you love them. Choose music that truly serves the story. Not every solo show needs "She Used to Be Mine" or "Waving Through a Window." We were lucky to work with existing hits from the Plate/Sommer catalogue – so we built the plot around the songs. For example, "Vincent" by Sarah Connor became an empowerment ballad for a queer Capulet father named Vincente. "Ich bin ich" by Rosenstolz turned into an opening confession of guilt. And about characters: not every solo show needs costume changes or a hundred impersonations. Sometimes it’s enough to change posture.
4. Plot is everything (yes, even here)
We used a 7-step model to shape the story:
The World: The Nurse lives in isolation, wiping tables in a trattoria after the tragedy.
The Problem: She blames herself for Juliet’s death.
The Trigger: An Englishman – William Shakespeare – appears and starts asking questions.
The Journey: She remembers, delays, distorts, confesses.
The Twist: It wasn’t just her. It was a broken system. A whole society.
The Cost: She lets go of her old self-image.
The Realization: I’m still here. I live. And guilt won't help me move forward.
5. Less is more – even in the set
We had six chairs, three tables. That’s it. But it forced us to be precise. Each scene had to work visually and emotionally with those few elements. That constraint was powerful. And yes, we overlit the show at first (sorry, Steffi). Only when we reduced the lighting, too, did everything click.
6. A small story. A big message.
Yes, it’s about one woman. But really, it’s about much more: family trauma. Gender roles. A society that looks away. A good solo show always touches something bigger. The protagonist becomes a lens through which we see a system.
Conclusion: Solo isn't a limitation. It´s a bet.
A one-person show is a bet. A bet that it’s enough. DIE AMME taught us that it absolutely can be – if the character is alive and the structure strong. And yes, having brilliant songs and a jaw-dropping performer definitely helps. If you’re writing a solo piece: don't think in limits. Think in density.
And if you want to see DIE AMME for yourself: tickets are available here.
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